Künstlerkontakt: email | website

Biografie | Szenario | Realisation
5. bis 28. Oktober 2001
Karl-Marx-Str./Hermannplatz, Karl-Marx-Str./Boddinstr.
Karl-Marx-Str./Saalestr.


Karl Marx lesen in der Karl-Marx-Strasse

Ort des Projektes ist die Karl Marx Straße (1), die den Ortsteil Neukölln durchquert.

3 blau gestrichene "Selbstbedienungskästen" aus Blech oder Plexiglas sind so entlang der Karl Marx Straße verteilt, daß einer am Anfang, einer in der Mitte und einer am Ende der Straße, alle jeweils in Sichtweite zu einem Karl Marx Straßenschild, in ähnlicher Position, wie Postbriefkästen frei am Straßenrand stehen. Die Kästen ruhen auf einem Stahlträger, der fest im Boden verankert ist. Durch eine nach oben zu öffnende Klappe können aus den Kästen bequem Schriften herausgenommen werden. Die 3 gleich aussehenden Kästen sollen so ähnlich gebaut sein, wie jene, die zwei Presseunternehmen vor ca. einem Jahr zu hunderten auf öffentlichen Straßen und Plätzen in Köln aufstellen ließen, um damit drei verschiedene Tageszeitungen ("20 Minuten Köln", "Kölner Morgen" und "Köln Extra") gratis (2) an vorübergehende Passanten verteilen zu können. In Deutschland gibt es diese Kästen bislang nur in Köln. Gelingt es dem norwegischen Schibsted-Verlag, seine Tageszeitung "20 Minuten Köln" gegen die mächtige einheimische Konkurrenz rentabel zu betreiben, so sollen in allen großen Städten, Tageszeitungen aus bunten Kästen verschenkt werden (3) (Zum Beispiel "20 Minuten Neukölln").
Man kann davon ausgehen, daß für diese fliegenden Bauten im öffentlichen Raum ordnungsamtliche, polizeiliche, sicherheitstechnische usw. Genehmigungen vorliegen.
In Neukölln können den drei Kästen indes keine Zeitungen, in denen, auch ohne Gleichschaltung, immer die gleichen Meinungen in unterschiedlichem Layout drinstehen, sondern jeweils fortlaufende Kopien aus dem 1. Band des Kapitals von Karl Marx entnommen werden. Die Kästen tragen weder innen noch außen eine Beschriftung, noch sind die Schriften kommentiert. Einmal soll damit nur Karl Marx selbst zu Wort kommen, und zum anderen soll damit einer sehr verbreiteten Voreingenommenheit begegnet werden. Dabei geht es um die Gelegenheit zu prüfen, ob es stimmt, was Marx über den Kapitalismus herausgefunden hat.
Mißbrauch, Vandalismus usw. können nicht verhindert werden und führen zum Abbruch des Projektes. Die Kästen müssen regelmäßig betreut werden. Das Projekt ist ausbaufähig: Gegner und Interessierte der Schriften können ihre Einwände und Fragen in einem daneben stehenden Kasten loswerden und können sie dort wieder beantwortet finden, was allerdings großen Aufwand erfordern würde. Dann wäre auch eine Dokumentation sinnvoll.

 






Bemerkungen:

(1) Am 31. Juli l947 erfolgte die Umbenennung der Berliner Straße und der Bergstraße in Karl Marx Straße. Der Plan, den Straßennamen wieder zu ändern, scheiterte angeblich am Widerstand der dort ansässigen Kaufleute, die die Kosten für neue Stempel usw. sparen wollten.

(2) Natürlich hat ein kapitalistisches Unternehmen nichts zu verschenken. Die Zeitung ist längst über Werbeeinnahmen gewinnträchtig bezahlt, bevor sie dann zwingend verschenkt werden muß, damit auch jeder die Werbung zu Gesicht bekommt. Das Betrachten von Annoncen ist soweit gediehen, daß damit Geld zu machen ist, allerdings nicht für den Betrachter.

(3) An den Maßnahmen, die die großen Zeitungsverlage gegen die Gratiszeitungen unternehmen, kann man erkennen, wie sehr sie sich in ihrer Marktstellung bedroht fühlen. In Köln verschenkt der Marktbeherrscher Neven DuMont gleich zwei Tageszeitungen immer in unmittelbarer Umgebung des Konkurrenten Schibstedt. Falls der mit ökonomischen Mitteln nicht kleinzukriegen ist, dann eben mit gerichtlichen Mitteln. Argument: sittenwidrig

P.S. Verschenken: Dazu sagt Marx: " ...der sonderbare Umstand, daß der Gebrauchswert der Dinge sich für den Menschen ohne Austausch realisiert, also im unmittelbaren Verhältnis zwischen Ding und Mensch, ihr Wert umgekehrt nur im Austausch, d.h. nur in einem gesellschaftlichen Prozeß..." (Kapital Bd.1 S.98). Wie woanders auch quellen in Neukölln die Geschäfte und Einkaufszentren vor Waren über. Für eine allgemeine Zufriedenheit fehlt es an nichts. Alle sind von nützlichen Dingen umgeben, aber weder ist damit ein voller Magen, noch ein Dach überm Kopf und schon gar nicht ein gutes Leben garantiert. Man könnte sich die Sachen einfach nehmen, nach Maßgabe, was man so benötigt. Aber das unterbindet die immer bereitstehende Gewalt des Staates, da es auf den Wert und nicht auf Bedürfnisse ankommt. Nur gegen Geld, also durch Verkauf dürfen die Sachen genommen werden, auch auf die Gefahr hin, daß niemand kauft und die Arbeit umsonst war. Denn die vom Staat geschaffene Kategorie Eigentum schließt andere als den Besitzer vom Gebrauch aus, muß also dauernd bewacht werden. Ohne Eigentum gäbe es keine Diebe. So kann sich der Staat als großartiger Beschützer aufspielen und ist doch selbst derjenige, der Verbrechen erst ermöglicht - alles um das Verschenken zu verhindern.


Hans-Jörg Tauchert •

Künstlerische Aktivitäten seit den 70er Jahren. Gemeinsam mit Inge Broska Begründer der Performance-Gesellschaft; Mitarbeit an der Ultimate Akademie Köln und im Hausmuseum Otzenrath; Organisation von 93 Kunstburg - Veranstaltungen und -Ausgaben in Berlin von 1995 bis 2000; Zahlreiche Ausstellungen, Aktionen und Performances, u.a. im Rathaus Köln; auf der 3. Eigenart, München; im Büro für Kunst, Bielefeld, in der Weekend Gallery, Berlin; in der DuMont-Kunsthalle Köln; im Neuen Berliner Kunstverein; im Stadtmuseum Siegburg.

Hans-Jörg Tauchert • lebt seit 1986 in Köln.